Heilige Versammlung – Formen, Gegenwartsweisen, Vorsitz

Kloster BoseHEILIGE VERSAMMLUNG - FORMEN, GEGENWARTSWEISEN, VORSITZ

ALBERT GERHARDS
Seminar für Liturgiewissenschaft, Universität Bonn

Reflexionen anlässlich eines liturgischen Kongresses im Kloster Bose/Italien
Vom 5. bis 7. Juni fand im piemontesischen Kloster Bose, einer benediktinischen Gemeinschaft von Mönchen und Nonnen, ein internationaler und interdisziplinärer Kongress über Liturgie und Kirchenraum statt, der fünfte in Folge (s. den Bericht auf  S. ###). Der anregende Kongress gab Anlass zu weiterführenden Überlegungen.

Ein neues Interesse für Liturgie?

In vielen Ländern der westlichen Welt lässt sich ein wiedererwachtes Interesse für die Liturgie feststellen. Liturgie ist, so der Prior von Bose, Enzo Bianchi, ein sensibles, ja ein entscheidendes Kriterium für die Weitergabe des Glaubens.  Die gesteigerte Aufmerksamkeit hängt also nicht nur mit der besonderen Beachtung zusammen, die Papst Benedikt XVI. diesem Grundvollzug der Kirche schenkt, sondern entspricht der zunehmenden Suche vieler Menschen  nach identitätsstiftenden Momenten, die gegenüber den ständig wechselnden Lebensbedingungen, Beziehungen und Identitäten Orientierung und Verlässlichkeit schenken. Hier, so scheint es, scheiden sich die Geister: Suchen die einen diesen Rückhalt in der Gruppe Gleichgesinnter, in Erfahrungen von Beheimatung in Gemeinschaft und persönlichem Austausch, so bevorzugen die anderen die Inszenierung von Alterität, von Verwiesenheit auf  das ganz andere, unter Absehen von jeglichen Formen alltäglicher Kommunikation. Damit ist in etwa die Konfliktlinie gekennzeichnet, die die Auseinandersetzungen im Umfeld des Motu Proprio Benedikt XVI. „Summorum Pontificum“ von 2007 bestimmt. Sie bewegen sich zwischen den Extremen freikirchlicher Beliebigkeit und traditionalistischer Erstarrung. Die aktuelle Diskussion in der römisch-katholischen Kirche wurde auf dem Kongress im Kloster Bose zwar kaum thematisiert, bildete aber gleichsam die Folie, vor der die Themen „Heilige Versammlung“, „Präsenz“ (Gegenwart) und „Präsidenz“ (Vorsitz) behandelt wurden.
Wenn Papst Benedikt in seiner Prämisse Recht hat, dass die beiden Ausprägungen des römischen Ritus den Glauben der Kirche gleichermaßen zum Ausdruck bringen, dann liegt ihnen bei aller phänomenologischen Disparatheit derselbe Gehalt zugrunde: das Heilige, dem sie – wenn auch auf verschiedene Weise – als Zeichen dienen (vgl. SC 21). Eine ungeklärte Frage ist die symboltheoretische nach der Qualität der Zeichen: Müssen diese „verstanden“ werden und wenn ja, auch welcher Ebene? Wie weit ist die Versammlung selbst ein Zeichen? Soll sich die Liturgie profanen Versammlungsformen angleichen, oder muss sie sich auch phänomenologisch davon abheben, um als „Heilige Versammlung“ wahrnehmbar zu sein? Wie kommt „Präsenz“ im Sinne der Gegenwart Christi nicht nur in Wort und Sakrament, sondern auch und vor allem in der liturgischen Versammlung samt ihrem Leiter zum Ausdruck (vgl. SC 7), und welche Anforderungen sind dazu an den liturgischen Feierraum zu stellen?

Der „tridentinische“ Kirchenraum
Die Disposition der Reformen im Anschluss an das Trienter Konzil war eindeutig: Klare Ausrichtung auf den Hochaltar mit dem Tabernakel und dem Expositorium für das Allerheiligste, im nördlichen Europa unterstützt durch die Anordnung der Kirchenbänke. Damit wurde (in gegenreformatorischer Stoßrichtung) wahrnehmbar: Die Versammlung legitimiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern ergibt sich aus den Gottesbeziehungen der einzelnen, die sich auf die konsekrierte Hostie in der Monstranz konzentrieren und erst beim sakramentalen Segen zu einem Wir zusammenfinden: „Tantum ergo sacramentum veneremur cernui…“ Die Präsenz Christi als Konstitutivum der Heiligen Versammlung ist nicht mehr an die menschlichen Individuen gebunden, sondern hat sich objektiviert und monopolisiert in den durch den Priester gewandelten eucharistischen Gestalten, insbesondere in der Schaugestalt des Brotes. Daher ist die Anwesenheit von Gläubigen bei der Feier der hl. Messe ekklesiologisch nicht mehr notwendig: diese nehmen zu ihrem eigenen Seelenheil teil. Ihr Mitopfern lässt sich durch die Bezahlung eines Stipendiums oder einer Messstiftung delegieren. Der ekklesiale Leib Christi hat keine Schaugestalt mehr. Dementsprechend kann die Raumordnung des Trienter Konzils auf Ambo und Priestersitz gleichermaßen verzichten: Wortverkündigung innerhalb der Messe wird zu einem rein kultischen Akt. Lediglich der Wechsel der Altarseite (Herumtragen des Missales) erinnert an die alte römische Raumordnung mit den zwei Ambonen. Der exklusive Ort des Priesters ist der Altar zur Darbringung des Opfers und zur Konsekration der eucharistischen Spezies. Beim Hochamt dienen die Sedilien dem Priester und den Leviten nur als „Parkposition“ während der noch bis 1903 als aliturgisch geltenden Chorgesänge. Ein Sitz der Leitung, von dem aus liturgische Funktionen wahrgenommen werden können, ist nicht mehr vorgesehen. Das Expositorium über dem Tabernakel ist Thron des in der sichtbaren Brotsgestalt gegenwärtigen Christus, der als Haupt seinen Gläubigen gegenübersteht und von ihnen angebetet wird. Andererseits ist die Hostie als  „Verhüllung“ ein Zeichen der noch ausstehenden Vollendung in der unverhüllten Anschauung Gottes: signum prognosticum.
In ihrer Zeit war die tridentinische Raumdisposition ein gültiger Ausdruck der gegenreformatorischen Theologie. Ihre Auswirkung auf den Kirchenbau ist bekannt. Es wurden ja nicht nur neue Kirchen gebaut, sondern die bestehenden wurden nicht selten auf  brachiale Weise den neuen Verhältnissen angepasst. Lettner, Ambonen, Levitenbänke verschwanden, da nicht mehr zeitgemäß. Dafür wurden für die Gläubigen Gestühl und Kommunionbänke eingeführt und die Kanzel als Kommunikationsort für die (außerliturgische Verkündigung) aufgewertet. Gut erhaltene mittelalterliche Raumensembles findet man fast nur noch in vorreformatorischen lutherischen Gebäuden.
Die Bilanz der Trienter Reform in Bezug auf die Raumordnung ist also durchaus zwiespältig. Der Zugewinn – Konzentration der Frömmigkeit durch Ausrichtung auf den Hochaltar – ist unzweifelhaft, geht aber auf Kosten gefeierter Liturgie. Die Entfernung des Priesters am fernen Hochaltar von der Gemeinde sowie deren Verharren in Passivität wurde seit der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder beklagt (z.B. von dem seligen Antonio Rosmini). Die Liturgische Bewegung des 19. Jh. versuchte, durch Bildung hier Abhilfe zu schaffen, die des 20. Jh. griff erstmals seit der Trienter Reform in die Raumgestalt ein: Hineinziehen des Altarraums in den Kirchenraum, Minimierung der Kommunionbänke, Realisierung des „circumstantes“, Ermöglichung der Zelebration „versus populum“, Aufstellung von liturgisch verwendbaren Ambonen und Priestersitzen, Aufbewahrungsorte des Allerheiligsten getrennt vom Altar auch in Pfarrkirchen (z.B. St. Alban, Köln). Die Realisierungen der Zwischen- und Nachkriegszeit beruhen oft auf intensivem Austausch zwischen Architekten und Künstlern einerseits und Pfarrern und Liturgieexperten andererseits und sind bis heute nicht selten von beispielhafter Bedeutung. Leider wurden diese Raumensembles in der Zeit nach dem Konzil oft nicht mehr richtig verstanden und daher oft zerstört. Dies gilt insbesondere für den Taufort. Zahlreiche Baptisterien der Nachkriegskirchen bleiben seit Jahrzehnten ungenutzt, statt in eine „bewegte“ Taufliturgie einbezogen zu werden.

Der „vatikanische“ Kirchenraum
Damit ist der Blick auf die Situation nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gelenkt. Zweifellos war die in der Liturgischen Bewegung vorbereitete und durch die Beschlüsse sanktionierte Wiederentdeckung der Kirche als Versammlung der Gläubigen die große Errungenschaft jener Zeit. Dies führte bekanntlich zu einer explosionsartigen Verbreitung von „Volksaltären“ sowie zur Aufstellung von Ambonen und Priestersitzen. Wo der bestehende Altar weiterhin als Zelebrationsaltar genutzt werden konnte, wanderte der Tabernakel in aller Regel an die Seite oder in eine Seitenkapelle. Eine Zeit lang schien der in kurzer Zeit erreichte Standard  unwidersprochen. Gelegentlich geäußerte Kritik wurde ignoriert. Erst in jüngerer Zeit artikulierte sich von unterschiedlicher Seite ein Unbehagen gegenüber der standardisierten Anordnung der liturgischen Versammlung und ihrer Orte, wobei auch zunehmend die Gegensätze in der grundsätzlichen Auffassung zutage traten.  Insbesondere der durch bloße Ummöblierung des liturgischen Raums erzeugte Bühnencharakter und die Inszenierung eines ständigen Gegenübers von Priester und Gemeinde erweist sich als ein Problem, das durch die „Wiederentdeckung“ der Orientierung beim Gebet noch verschärft wird. Der Kongress 2006 in Bose befasste sich bereits mit dieser Thematik (Liturgischer Raum und Orientierung).  Es ist evident, dass viele konkrete Raumordnungen ein problematisches Verhalten der Akteure, besonders der priesterlichen Leiter der liturgischen Versammlungen, auf ungute Weise unterstützen. Die eigentliche, höchst anspruchsvolle Gestaltungaufgabe besteht darin, die der christlichen Liturgie innewohnende Gegensätzlichkeit von Nähe und Distanz, Verhüllen und Enthüllen, Kult und Kommunikation so zu inszenieren, dass die Akteure in einem angemessenen Rollenverhalten unterstützt werden. Dies gilt insbesondere für das rechte Verständnis des Priesters in seinem Handeln „in persona Christi“. Die fortwährende Frontalsituation an der Sedilie, am Ambo und am Altar im Gegenüber zur Gemeinde suggeriert ein Rollenverhältnis, als sei der Priester ständiger Repräsentant Christi in allen Vollzügen. Dabei steht er wie die restliche Gemeinde als Sünder vor Gott, ruft den Kyrios Christus an, richtet das Gebet durch Christus an Gott, den Vater, ist Hörer des Wortes bei den Lesungen und – wenn ein Diakon mitfeiert – selbst beim Evangelium, ist Leiter, aber auch Mitbeter bei der Oratio Fidelium, spricht das Hochgebet im Namen der Kirche. Auch die Verba Testamenti sind keine isolierten Konsekrationsworte, sondern eingebunden in die narratio (Einsetzungsbericht), welche wiederum Teil des großen Dankgebetes durch Christus an den Vater ist.  Deren theologischen Nukleus bildet die Bitte über die Gaben und die Kommunikanten, damit letztere hineingenommen werden in die große Bewegung durch Christus im Hl. Geist zu Gott, dem Vater, wie dies die Schlussdoxologie in Wort und Geste zum Ausdruck bringt. Dass der Priester bei der Kommunion Empfangender ist wie alle anderen auch, kommt heute leider nicht mehr zum Ausdruck wie noch im ersten Jahrtausend, als auch der Priester sich die Kommunion nicht selber nahm, sondern sie aus der Hand eines anderen (des Diakons) empfing.

Die ars celebrandi als Anforderung an Feiernde und Raum
Die ars celebrandi besteht wesentlich in der personalen Präsenz bei gleichzeitiger Rücknahme der Individualität im Dienst an einem anderen, eine Platzhalterfunktion, deren primäre Aufgabe darin besteht, dem anderen Raum zu geben. Der liturgische Raum muss daher so beschaffen sein, dass er offen ist für die Begegnung mit dem anderen, mit Christus, und durch ihn mit Gott. Das ist der Sinn der Orientierung des Raums, der so zur Schwelle wird über die Grenze des Erfahrbaren hinaus. Selbst die christlichen Zentralbauten sind orientiert. Wo es sich nicht um Baptisterien oder Memorialbauten handelt, ist die Mitte frei (byzantinische Kreuzkuppelkirchen, barocke Zentralbauten), wird die vertikale Öffnung des Raums zum Symbol der Öffnung der betenden Gemeinde gegenüber dem Geist Gottes, zum epikletischen Gestus.
Damit stellt sich für die Disposition des Kirchenraums die Aufgabe, Ausrichtung und Zentrierung, Longitudinalität und Zentralität, in eine spannungsvolle Beziehung zu setzen. Diesen gegensätzlichen Anforderungen an den Raum stärker zu entsprechen, dienten zahlreiche  Überlegungen der vergangenen Zeit hinsichtlich des „Communio-Raums“ und nicht wenige Realisierungen dieses Raummodells vor allem in Frankreich und Italien. Dass es kein Raumkonzept gibt, das allen kommunikativen Erfordernissen der verschiedenen Teile der Messe und der anderen Gottesdienstformen gleichermaßen entspricht, war von vorneherein klar. Erfahrungen mit solchen Räumen und ihre Reflexion führten jedoch schon zu Modifikationen des bipolaren Grundkonzepts, die den verschiedenen Anforderungen stärker entsprechen, so die U-förmige Anordnung der Versammlung mit dem Altar im Brennpunkt und dem Ambo an der offenen Seite. Die Diskussion verschiedener Lösungswege und Erfahrungen in Bose auf internationaler Ebene zeigte wieder einmal, dass der „andere Blick“ hilfreich ist für die Entkrampfung verhärteter Positionen und einen Beitrag leisten kann für die Erneuerung der Kirche aus dem Geist der Liturgie.

ALBERT GERHARDS
Seminar für Liturgiewissenschaft, Universität Bonn